Neu erfunden werden musste für dieses Album vor allem der Spirit der Band, die sich in den letzten Jahren mehr und mehr weg vom Band-Zusammenhalt und immer mehr hin zum Geschäftsunternehmen entwickelte. Persönliche Kontakte waren da auch im Studio selten, das meiste wurde auf Hoffmanns Rücken ausgetragen. Dieser Mittelsmann fehlt nun, die Kommunikation zwischen den Musikern ist wieder intensiver und direkter, die Band - wieder einmal - vorerst vor der Auslösung gerettet.
"Jazz ist anders" ist mitunter eines der intensivsten, ehrlichsten und vor allem humorlosesten Alben, die die ärzte je hervor gebracht haben. Stücke wie "Lied vom Scheitern" ("Ich dachte, ich könnte es erzwingen / Der Selbstbetrug kann mir nichts bringen.") oder das nicht ganz ernst gemeinte "Living Hell" ("Ich hasse diesen Überfluss / Ich brauch' nur etwas Ruhe.") stellen zur Schau, wie sehr sich die Band in den letzten Jahren unter Druck gesetzt fühlte, keinen Spaß mehr an der Musik fand. Dieser Spaß ist hörbar zurück gekommen, die Band wirkt sehr eingespielt, es gibt wieder mehr Kollaborationen.
Eine davon ist "Breit". Farin Urlaub, der - man kann es in diesem Zusammenhang nicht oft genug erwähnen - Zeit seines Lebens vollkommen abstinent lebt, schreibt nach dem Drogen-Song "Lieber Tee" von 1993 nun zusammen mit Rodrigo Gonzalez erneut einen Song zu diesem Thema, der in den Augen vieler Kritiker sicher als verherrlichend wahrgenommen wird, vermutlich aber das Gegenteil intentioniert. Instrumental bietet sich im Refrain eine breite Gitarrenwand, ein wahres Brett.
"Aus dem Weg, denn jetzt muss ich tanzen" fordert Farin Urlaub in "Deine Freundin (wäre mir zu anstrengend)" und sorgt anschließend mit einem Funk-Feuerwerk dafür, dass ihm sogar der größte Tanzmuffel auf die Tanzfläche folgt. Ein Genre, das die ärzte bisher eher selten bedienten. Zu bemängeln ist hier lediglich die bis zur beinahen Unverständlichkeit verzerrte Gesangsspur gegen Ende.
Auch das Genre des Anti-Gruftsongs wird auf "Jazz ist anders" erstmals von Bela B. bedient, der in "Licht am Ende des Sarges" mit dem ihm nachhängenden Gruft-Image aufräumt und klar macht, dass er doch gar kein so dunkler Typ ist. Musikalisch klingt das durch die leiernde Gitarre sehr nach einem Song aus der "Debil"-Zeit, wohl ein Ergebnis der Eigenproduktion.
Bela B. glänzt - bedingt durch ausgiebiges Gesangstraining im Zuge seines Soloalbums - mit einer außergewöhnlich guten Gesangsleistung. Vor allem ist dies in "Tu das nicht" zu hören, das in seiner Struktur etwas an das wohl bekannte "Ist das alles?" erinnert, gesanglich aber eine der besten, wenn nicht sogar die beste Leistung ist, die Bela B. jemals auf einer die ärzte-Platte abgeleistet hat. Textlich orientiert sich der Song an der aktuellen Musikindustriepanik vor illegalen Raubkopien. Die typisch tocotronische, sehr lange Hinführung zur Strophe umrahmt den aggressiven Haupttext, in dem der vermeintliche Raubkopierer auf seine Schandtat hingewiesen wird und ihm eröffnet wird, dass die Musiker auf sein Geld angewiesen sind. Darauf folgt erneut ein tocotronisch angehauchtes Outro, in dem die bereits zu Anfang oft genutzte "Tu das nicht"-Phrase so lange wiederholt wird, bis auch der letzte verstanden hat, worum es geht. Die Band hat beim Einspielen untereinander die Instrumente getauscht und große Teile des Liedes improvisiert. Eine charmante Inkompetenz im Beherrschen des jeweiligen Instruments ist dabei manchmal nicht zu überhören.
In puncto Vergangenheitserinnerungen steht auch "Heulerei" in nichts nach, dessen überfallartiger Anfang an das ebenfalls seit längerer Zeit bekannte "Alleine in der Nacht" erinnert, dann aber mit wahnsinniger textlicher Gemeinheit seinen ganz eigenen Weg findet und zu einem der besten Stücke des Albums mutiert. Neben dieser Up-Tempo-Nummer bietet "Jazz ist anders" wie gewohnt auch einige Mid- bis Low-Tempo-Songs. Unter anderem den Schmusesong "Nur einen Kuss".
Balladen sind wir ja aus der Feder des Farin Urlaub zur Genüge gewohnt, so eine - im wahrsten Sinne des Wortes - herzzerreißende Ode an die Liebe wie "Nur einen Kuss" hat man von ihm jedoch noch nicht gehört. "Und ich glaubte nicht mehr an die Liebe." Farin Urlaub spricht das aus, was jeder früher oder später einmal so oder so ähnlich erlebt hat oder noch erleben wird. Typisch für die Urlaub'schen Ergüsse findet auch dieses Liebesdrama ein unschönes, brutales Ende.
Dramatisch, aber immerhin nur psychisch brutal ist "Die ewige Maitresse", eine gesangliche Koproduktion von Bela B. und Farin Urlaub und damit mittlerweile leider eine Seltenheit. Dieser Umstand macht das Lied - natürlich neben musikalischer und textlicher Brillianz - zu einem der Highlights.
Ein Höhepunkt ist ohne Frage auch die aufwändige Gestaltung des Albums. Wie das Cover vermuten lässt, handelt es sich bei der Verpackung tatsächlich um eine Pizzaschachtel. Dieser Schachtel liegt in der Erstauflage als Extra eine 3"-Bonus-EP bei, die drei Lieder enthält, in denen BelaFarinRod die Band auf humorvolle Art und Weise reflektieren.
"Wir waren die Besten" betrachtet die Bandhistorie aus der Sicht eines alternden Bela B., der im Altersheim über die Erfolge der Band sinniert, während Farin Urlaub in "Wir sind die Besten" das Jetzt und Hier beschreibt. In beiden Fällen kriegen auch andere Musiker ihr Fett weg, im Konkreten der im Song versterbende Phil Collins sowie der arrogant geltende Indie-Musiker Phillip Boa.
Ein weiterer bekannter Musiker wird im Hiddentrack - wie immer: zurück spulen - wieder belebt. "Nimm es wie ein Mann" beschäftigt sich mit der Erscheinung Kurt Cobains in Form eines Kackehaufens. Musikalisch wird das von einem astreinen Metallriff unterlegt. Trash as Trash can be.
Den Abschluss der EP bildet Rodrigo Gonzalez' "Wir sind die Lustigsten". Man sollte meinen, der Titel erklärt sich von selbst, aber man sollte nicht darauf vertrauen, was einem der Titel suggeriert.
Das Album findet mit diesem Klaviersong einen schönen Ausklang. "Jazz ist anders" ist vorbei, die ärzte sind ohne Zweifel wieder da. So viel Ernsthaftigkeit muss man - wie eine gute Pizza - nun erstmal sacken lassen. Es braucht ein paar Durchläufe, bis man sich damit angefreundet hat, dass dieses Album keine Gagkanone parat hält.
Fazit: Die Ehrlichkeit des Albums und die dazugehörigen Interviews erschrecken, werten "Jazz ist anders" aber deutlich auf. Man darf gespannt sein, ob und was diese Band in Zukunft noch auf die Welt los lässt. Denn merke: die ärzte sind die ärzte sind die ärzte.
Punkte: 9.5 / 10