Würden Dornenreich also zu einer reinen Kopie ihrer Frühwerke verkommen? Glücklicherweise nicht, denn "Flammentriebe" wirkt vielmehr wie ein Querschnitt durch die gesamte, bandeigene Diskographie. Vom avantgardistischen Black Metal der "Her von welken Nächten"-Phase über die schwelgerischen und geheimnisvoll anmutenten Akkustikpassagen von "Durch den Traum" bis hin zu den sehnsuchtsvollen Violinenmelodien von "In Luft geritzt" vereint das Album alle bisherigen Stärken der Bandgeschichte. Doch Dornenreich wären nicht Dornenreich, wenn sie ihrem Sound nicht auch ein Element X, eine neue Unbekannte hinzufügen würden. Jene Unbekannte lässt sich wohl am besten mit dem vielseitigen Begriff Post Black Metal umschreiben. Dies hat jedoch nichts mit den Shoegaze-Ausflügen der Marke Alcést zu tun, sondern steht vielmehr für eine moderne Fortführung des staubigen Black Metal-Konzepts.
Nehmen wir als Beispiel den atemberaubenten Opener "Flammenmensch". Nach einer ruhigen Einleitung verwandelt sich der Song in ein treibentes Monster mit ungeahnter Wut und einer nahezu kaltherzigen, postmetallischen Stimmung. So klingt moderner Black Metal in Höchstform! Freilich, ihre Sturm und Drang-Phase haben Dornenreich (wahrscheinlich auch altersbedingt) schon längst hinter sich und so wirkt die Musik im weiteren Verlauf kontrollierter und wesentlich reifer als noch vor einigen Jahren. Dennoch lässt es sich Eviga nicht nehmen, wieder wie früher seine Gefühle ungehalten herauszuschreien und zu fauchen. Der Anteil an gesprochenen und gehauchten Passagen wurde dafür begrenzt, findet aber trotzdem seinen Platz in den Songstrukturen. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit findet ihren Höhepunkt übrigens im intensiven "Wolfpuls", in dem (wie Eviga mir erklärte vollkommen unbewusst) das Hauptriff von "Schwarz schaut tiefster Lichterglanz" vom dritten Album in nahezu unveränderter Form auftaucht.
Doch nicht nur die musikalische Seite sollte Beachtung finden, denn auch die Lyrics waren schon immer ein wichtiger Grundpfeiler des Schaffens der Band. Und so stecken auch die Texte von "Flammentriebe" voller Metaphern und Interpretationsmöglichkeiten, wobei sie wieder etwas umfangreicher ausgefallen sind. Die Reduziertheit von "In Luft geritzt" findet sich erst in den letzten beiden Titeln wieder. Besonders einnehmend wird das Ganze dann im hochemotionalen Schlussstück. Durch seinen spannungsgeladenen Aufbau entwickelt es sich zu einer regelrechten Gänsehautnummer, die von dem Zweizeiler "Erst die Träne löscht den Brand, Es blüht und welkt - dies´ weise Land" gekrönt wird. So viel Aussagekraft und Deutungsebenen findet man bei anderen Bands in ganzen Konzeptalben nicht!
Abschließend betrachtet stellt "Flammentriebe" also die musikalisch, wie textlich perfekte Symbiose aus allen Phasen der Band dar, bietet darüber hinaus neue Ideen und schafft es abermals, den Hörer emotional zu berühren. Somit untermauern Dornenreich erneut ihren auergewöhnlichen Status innerhalb der avantgardistischen Musikszene. Nach mehrmaligen Hören des Albums muss ich jedoch gestehen, dass es (noch) nicht ganz an ihr Meisterwerk "Her von welken Nächten" heranreicht. Dies ist zwar ein ziemlich unfairer Vergleich, da ich jenes Album schon geschätzte hunderte Male gehört habe, aber "Her von welken Nächten" hat nunmal den Test der Zeit bestanden und wird auf ewig das 11 Punkte Album innerhalb der 10 Punkte-Diskographie Dornenreichs bleiben. Bis es bei "Flammentriebe" auch soweit ist, werde ich wohl oder übel einen halben Punkt abziehen müssen.
Punkte: 9.5 / 10