Es mag am Generationsunterschied liegen und daran dass ich junger Spund die Band (und mit ihr den Heavy Metal) mit der "Nightfall In Middle-Earth" und "Follow The Blind" entdeckte, so etwa kurz bevor/genau als "A Night At The Opera" rauskam. Und da ich mit meinen 12 Jahren noch keinen Schimmer von der Welt (des Heavy Metal) hatte und auch so auf Nightwish (und die etwa um die Zeit rum veröffentlichte "Century Child") stand, empfand ich die extrem ausladenden Arrangements von "ANATO" nie als so störend wie manch alteingesessener Metaller. Das schwache Songwriting auf der "A Twist In The Myth" war schon eher ein Problem für mich, aber selbst dieses Album halte ich für extrem stark im Vergleich zu dem was sonst im Genre geht. Will sagen: Ich finde die letzten beiden Alben beleibe nicht so schwach wie sie immer gehandelt werden.
Trotzdem hatte ich beim ersten Hören von "A Voice In The Dark" ein ziemlich fettes Grinsen im Gesicht; So hart, rauh und brutal klangen die Krefelder seit Ewigkeiten nicht mehr... genauer seit "When Sorrow Sang" von der "Nightfall" oder dem "Imaginations"-Material, und das alles liegt weit über 10 Jahre zurück. Neben erwähnter single schlagen "Tanelorn (Into The Void)" sowie das grandiose "Ride Into Obsession" (was für mich den so ziemlich besten Speed Metal-Song des Genres seit Jahren markiert!) in eine ähnlich harte Kerbe und liefern Gitarrenriffs und Doublebass-Attacken en masse. Der Sound wurde merklich komprimiert aufs Nötigste, So kriegt man auch öfters Mal Hansis "richtige" Stimme ohne unzählige Harmonien, Dopplungen und Effektspielereien zu hören (selbiges gilt glücklicherweise übrigens auch für die Gitarren). Die Refrains sind trotzdem gewohnt fett und liefern wieder gewohnte Harmoniespielchen, die da dann aber auch grandios funktionieren.
Neben den drei sehr unerwarteten Speed Metal-Nummern gibt es erwartete, aber trotzdem grandiose Blind Guardian-Hausmannskost; vor allem herausstecken tun dabei das sehr an "ANATO" angelehnte "Control The Divine", was auf mich anfangs sehr schwach wirkte, sich aber mit jedem Durchlauf weiter aufbaute und sich zu einer der stärksten Nummern mauserte; die obligatorische Folk-Ballade namens "Curse My Name", die in die Kerbe von "A Past And Future Secret" oder "Bard's Song" schlägt und durch die komplexe Instrumentierung zu gefallen weiß - sowie "Valkyries", ein fast schon doomiger Song, der mit fein ausgearbeiteten Gesangslinien und einer bedrückenden Melancholie (trotz eher positiven Chorus) brilliert und am ehesten an die "Imaginations"-Zeit errinnert. Der Part nach dem ersten Refrain dürfte zum größten gehören was Blind Guardian je geschrieben haben!
Ganz besondere Aufmerksamkeit verdienen allerdings auch der erste und der letzte Song; die zwei überlangen Songs "Sacred Worlds" und "Wheel Of Time" flankieren die anderen Songs mit ihren ausladenden, orchestralen Arrangements. Das bereits vom Computerspiel "Sacred 2" bekannte "Sacred Worlds" fungiert hierbei nach einem Filmmusik-ähnlichen Orchesterstart als Opener... der Song ist wirklich gut, hat aber etwas zu viel "Hollywood" geschnuppert. So etwa als hätten hier Luca Turilli, Hans Zimmer und/oder Tuomas Holopainen als Ghost-Cowriter fungiert. Ich persönlich störe mich nicht dran und erfreue mich vor allem am (gewohnt) tollen Refrain, kann mir aber sicher vorstellen dass einige das anders sehen werden.
Ganz anders verhält es sich beim Rausschmeißer "Wheel Of Time": Der orientalisch angehauchte Song offenbart eine schier unglaubliche Ideenvielfalt und Melodiesicherheit, das Orchester fügt sich perfekt und vollkommen ohne Hollywood-Touch in den Song ein und lässt den Instrumenten und dem Gesang genug Freiraum, um sich voll zu entfalten. Die Nummer kann gut und gerne als Sequel zu "And Then There Was Silence", dem legendären 15-Minuten-Opus von "A Night At The Opera" gesehen werden, denn auch wenn es dessen Spielzeit nicht ganz erreicht, so kann "Wheel Of Time" problemlos in Sachen Komplexität, Vielschichtigkeit und Genialität mithalten.
Underwähnt blieben bisher die Klavier-Halbballade "War Of The Thrones" und "Road Of No Release", das ebenfalls mit einer Klavierstimme beginnt, sich aber zur soliden Metalnummer aufbaut. Diese beiden Songs sind großartig und stecken locker 90% der Szene in die Tasche, können aber leider nicht ganz mit der Frische und Genialität des restlichen Materials mithalten.
Zum Klassiker wird es "At The Edge Of Time" trotzdem nicht bringen. Dafür sind Blind Guardian zu lange im Geschäft; sowohl "Somewhere Far Beyond" als auch "Nightfall in Middle-Earth" sind schon geschrieben, und im Gegensatz zum letztgenannten Album wagen sich die Barden hier nicht an komplettes Neuland, was einen Klassikerstatus gerechtfertigt hätte, sondern fassen beeindruckend ihr bisheriges Schaffen zusammen. Mit diesem Album werden alle bedient - die Fans der ersten Alben bekommen wieder straighten, harten In-Die-Fresse-Speed Metal, die Freunde der verschachtelten letzten Alben dürfen sich vor allem auf die beiden Überlänge-Songs freuen, und die obligatorische Folk-Ballade ist auch vorhanden. Mehr noch; die ausladenden Nummern haben jetzt genug Bumms um den alten Fans zu Gefallen, und die Speed Metal-Tracks sind im Detail trotz aller Härte komplexe und hochmelodische kleine Meisterwerke - die Übergänge sind so fließend dass dieses Album tatsächlich dazu beitragen könnte, die "Lager" zusammenzuführen.
Nur eine wirklich originelle Nummer wie "Fly" oder "Straight Through The Mirror" vom letzten (ironischerweise sonst weit schwächerem) Album fehlt.
Alles in allem schrammelt "At The Edge Of Time" zumindest bei mir sehr knapp an der Vollpunktzahl und der absoluten Euphorie vorbei, hinterlässt allerdings bei jedem weiteren Hördurchlauf ein fettes Grinsen im Gesicht und darf getrost jetzt schon als eins der stärksten Blind Guardian-Alben überhaupt gehandelt werden. Reinhören ist für wirklich jeden absolute Pflicht!
Punkte: 9.5 / 10