"Haven" macht es mir aber anfangs unerwartet schwer. Bei den ersten Durchläufen macht sich neben der Entzückung für den heiss erwarteten neuen Stoff leichte Ernüchterung breit, weil die Kompositionen einfach nicht zünden wollen. Die Scheibe gleitet an mir vorbei, vermittelt zwar ein schönes Hörgefühl, verursacht aber keine Endorphin-Flut. Doch kaum dass sich eine leichte Enttäuschung eingenistet hat, explodiert "Haven" auf einmal wie aus dem Nichts. Wie eine Blume, die auf einmal aus der Knolle schießt, sobald es warm genug ist, entfaltet sich die Musik und erzeugt Hitze beim Hörer. Und sobald dies geschieht, kann man glücklich verkünden, dass KAMELOT den auf "Silverthorn" eingeschlagenen Weg erfolgreich weiter geht. Die meisten Lieder kombinieren Ohren schmeichelnde Melodien mit detailreichen, produktionstechnisch anspruchsvollen Arrangements, die, einmal in die Hirnzellen inkorporiert, mit jedem Hören weiter wachsen. So wie es eben auf "Silverthorn" auch der Fall war: dauerhaft spannend.
Auch diesmal wurde wieder eine Story verarbeitet, zu deren Details jedoch wenig in Erfahrung zu bringen ist. Es geht um die bedrohliche Lage in der heutigen Welt, metaphorisch ausgedrückt um dunkle, graue Wolken, aber auch um die Silberstreife am Horizont. "Haven" soll dem Hörer einen Hafen der Sicherheit geben und erhebend wirken. Ja, das mag etwas kitschig klingen, aber es ist haargenau der Grund, weshalb mir KAMELOT in den letzten Jahren so ungemein wichtig geworden ist. Die Musik ist immer eine Quelle zu Freude und ich bin schon etliche Male mit "Silverthorn"-Prunkstücken wie 'My Confession' oder 'Falling Like Fahrenheit' im Ohr auf Wolke-Sieben-Pulverschnee-Pisten runter gewedelt und habe Bergspitzen erklommen. Und 'Song For Jolee' ist unter meinen zehn schönsten Balladen aller Zeiten.
Was sind also die Höhepunkte auf "Haven"? Die Auswahl wird tatsächlich mit jedem Durchlauf größer. 'My Therapy' hat wieder einen suchterregenden Refrain, 'Insomnia' schleicht sich ebenso schlafverhindernd ins Ohr, auch der "Spieglein, Spieglein an der Wand"-Refrain von 'Liar Liar (Wasteland Monarchy)' verdutzt nur beim ersten Hör. Dagegen kann die Ballade 'Under Grey Skies' trotz schöner Passagen und Gastsängerin Charlotte Wessels (DELAIN) ob des schunkeligen Refrains nicht ganz anstinken. Ganz im Kontrast dazu stehen ungewohnt harte, modern-riffende Passagen, bei 'Revolution' sogar mit verzerrtem Growlgesang. Hier bin ich nicht sicher, ob ich das bei KAMELOT haben will.
Es macht indes wenig Sinn, nun jeden Song einzeln durchzugehen und nach nur fünfzehn lächerlichen Spins final zu beurteilen. KAMELOT ist KAMELOT ist KAMELOT und immer zwischen gut und grandios. Dies trifft auch auf "Haven" zu, und es ist wie jedes KAMELOT-Album in der Ära Khan eines mit riesigem Wachstumspotential. Punkt, fertig, aus!
www.powermetal.de 19.04.2015
Punkte: 8.5 / 10