Auffällig ist der moderne Einschlag, der Einzug gehalten hat und zunächst etwas verwirrt. Man fühlt sich gar durch den nah am Rap liegenden Sprechgesang beim Opener und Titeltrack "Scarsick" in einer Schrecksekunde an Clawfinger erinnert. Dieser Eindruck ist aber schnell verflogen und der Track entfaltet sich zu einer rockenden Nummer mit engelhaftem Chorus. Auch beim nächsten Song "Spitfall" wird man mit diesem Sprechgesang begrüßt, der sich mit ruhigeren Passagen und cleanen Gesangvocals abwechselt und sich somit sehr abwechslungsreich gibt. "Cribcaged" hingegen lässt leichte Pink Floyd Einflüsse vermuten, eines der ruhigsten, aber auch atmosphärischsten Stücke auf der CD. Der rockig gehaltene Song "America" mag durch seinen Titel erstmal für Skepsis sorgen, aber Textzeilen wie "each day a new store / each year a new war / while chosen whites rule the poor" lassen schnell darauf schließen, dass dieser Song alles andere als eine Lobeshymne auf die Vereinigten Staaten ist. Überhaupt ist das Album in den Lyrics extrem amerikakritisch ausgefallen und spart auch nicht mit Kritik an globalen Phänomenen wie z. B. die Konsumgier. Völlig abgefahren wird es dann mit "Disco Queen", der typische 70er-Disco-Beats mit Progrock verbindet, aber so eine besondere Dynamik entfaltet und sich nach einigen Durchläufen als ein Highlight des Albums entpuppt. Man achte insbesondere auf die Uptempo-Passage bei der 7-Minuten-Marke, die kurz danach wieder in den Discobeat übergeht. Im weiteren Verlauf reicht die musikalische Spannbreite von ruhigen Nummern ("Kingdom of Loss"), episch ("Ideocracy"), orientalisch angehaucht ("Flame to the Moth") und melancholisch-düster ("Enter Rain").
PAIN OF SALVATION gingen keine Kompromisse ein, sondern präsentieren mit "Scarsick" ein experimentierfreudiges Album, das sich jeder musikalischen Genredefinition entzieht. Von rockigen Passagen über ruhige Akustikmomente, vielseitige Variationen im Gesang und auch der Einsatz "genrefremder" Instrumentierungen, Abwechslung wird hier großgeschrieben. Instrumental lässt man hier nichts anbrennen. Die Jungs sind begnadete Musiker mit einem Gespür für gutes Songwriting und keines der Stücke wirkt auch nur ansatzweise langweilig. Textlich sind die persönlichen Seelentrips von Daniel Gildenlöw teilweise arg plakativen, aber in ihrer Grundaussage dennoch gar nicht mal so falschen Lyrics über den Zustand der Welt und insbesondere der USA gewichen.
Ich persönlich kenne und schätze die alten Scheiben der Band sehr, finde aber auch an "Scarsick" mit jedem Hördurchgang mehr Gefallen. Der erste Eindruck läßt eher Skepsis aufkommen, aber dieses Album entfaltet sich langsam und muss einfach mehrmals gehört werden. Allein schon, weil die Band die Songs mit vielen Details ausgeschmückt hat. Einige Die-Hard-Fans werden sicherlich ihre Probleme mit diesem Album haben und diverse Reviews, die dem Album eine mittelmäßige Kritik zuschreiben, scheinen diesen Eindruck zu bestätigen. Auch wenn der Schritt in diesem Fall nicht so drastisch ist, aber in gewisser Weise könnte man "Scarsick" von PAIN OF SALVATION mit "Gloria" von Disillusion vergleichen. Zwei Bands, die sich mit großartigen Alben eine treue Fanbasis erarbeitet haben, aber mit dem jeweils aktuellen Album für große Verwirrung sorgen. Wie sich "Scarsick" in der Discographie der Band halten wird, kann man jetzt noch nicht absehen. Mein Gefühl sagt mir, dass DAS große, Maßstäbe setzende PAIN OF SALVATION Album noch nicht geschrieben ist. Auf alle Fälle handelt es sich mit "Scarsick" um ein ambitioniertes Album einer Band, die sich keiner Erwartunghaltung hingibt, kein kommerzielles Kalkül einfließen lässt und darum um so wichtiger ist. Für Rock- und Metalfans ohne Scheuklappen eine klare Empfehlung.
(Review zuerst veröffentlicht auf: http://www.osnametal.de/art_cds.php?view=alphabet&letter=P&id=999)
Punkte: 8.5 / 10