Ein deutlich erkennbarer Unterschied zu "damals" ist auch die "Zielgruppe" der Songs. Zu früheren Zeiten waren die Texte wesentlich persönlicher und offener, man konnte teilweise allein aus den Songtiteln deren Hauptaussage erschließen ("Ich verachte euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst", "Ich möchte Teil einer Jugenbewegung sein" oder "Alles was ich will ist, nichts mehr mit euch zu tun haben"). In den letzten Jahren rutschten die Texte bewusst immer mehr in die Anonymität ab. Vom Hörer wird augenscheinlich nichts mehr gefordert. Und dennoch wird genauso viel wachgerüttelt wie früher. Nur wird diesmal aus "Ach, der meint mich bestimmt nicht, wenn er 'du' singt" ein "Hey, der meint uns alle, wenn er 'ihr' und 'wir' singt". Die Texte sind verschlüsselter. Man muss sich damit auseinandersetzen, um sie zu verstehen, was mal mehr und mal weniger schwer bzw. leicht fällt.
Wer ganz genau hinschaut oder besser gesagt hinhört, dem fällt auf, dass die CD teilweise symmetrisch aufgebaut ist. "Pure Vernunft darf niemals siegen" - also quasi der Titelsong - stellt den Mittelpunkt der CD dar. Direkt drumherum befinden sich mit "Angel" und "Cheers for Fears" zwei Songs, die englische Parts enthalten. Wenn man so will, haben "Der achte Ozean" und "Tag der Toten" auch eine ähnliche Melodie. Nicht zu leugnen ist jedenfalls der Zusammenhang zwischen "In höchsten Höhen" ("In höchsten Höhen, wo wir schwindeln in tiefste Tiefen und zurück") und "In tiefsten Tiefen" ("Von hier aus gehen wir weiter"). Letzteres scheint in gewisser Weise ein zweiminütiges Reprise zum ersten zu sein. Was eigentlich als gutes Konzept zu verstehen ist, führt leider ab und an dazu, dass man sich fragt, ob man diese oder jene Stelle nicht ein paar Songs vorher schon einmal gehört hat.
Wer Glück hat, findet hier und da noch die limitierte Erstauflage im Digipack inkl. 3" Bonus-CD mit der "Mystery Symphony", die ihren Namen nicht zu Unrecht trägt. Das Instrumentalopus erstreckt sich über ganze 9 1/2 Minuten, während denen man schnell mal vergisst, dass man da gerade Tocotronic hört. Dass man auch bei den melancholisch angehauchten Stücken "Keine Angst für Niemand", "Angel", "Cheers for Fears" und "Ich habe Stimmen gehört" schnell mal vergisst, dass man da gerade eine eigentlich gute CD hört und trotzdem oder gerade deshalb den Ort des Geschehens verlässt, um kurz mal Erledigungen zu machen, spricht allerdings nicht unbedingt für die gerade erwähnten Songs. Ganz allgemein mindert die überschwängliche Melancholie den Genuss des Albums in voller Länge doch in den meisten Situationen maßgebend und man ist allzu oft versucht, spätestens zur Hälfte weiter zu skippen, aber da ist es meistens zu spät, weil der Song einen doch noch gepackt hat - obwohl man das ja eigentlich gar nicht mehr will.
"Pure Vernunft darf niemals siegen" enthält kein zweites "Hi Freaks" und auch kein zweites "This Boy is Tocotronic". Es hat weder aus der Masse heraus stechende Songs, noch hat es elektrische Parts. Dafür ist es als Gesamtkunstwerk gut aufeinander abgestimmt und viele der Songs funktionieren auch für sich stehend sehr gut.
"Pure Vernunft darf niemals siegen" war mein erster bewusster Kontakt mit Tocotronic und für mehrere Wochen dann auch mein letzter. Tocotronic ist nichts für Menschen, die locker flockige Gute Laune-Musik erwarten. Tocotronic ist ein Aufstand, eine Rebellion gegen die Otto-Normal-Gesellschaft. Es bedarf einiger Zeit, sich mit der Band anzufreunden. Bei mir hat es sogar einige Jahre gedauert, bis ich meine Abneigung gegenüber der sogenannten Hamburger Schule überwunden habe, aber es hat sich gelohnt.
Punkte: 6 / 10