BAP Halv Su Wild (2011) - ein Review von Spike65

BAP: Halv Su Wild - Cover
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1 Review
5
5 Ratings
8.20
∅-Bew.
Typ: Album
Genre(s): Rock


Spike65
27.08.2018 12:23

Die lang erwartete Scheibe, die die letzte Studio-CD der Ära Helmut Krumminga werden sollte - was 2011 aber noch keiner ahnen konnte. Präsentiert wird sie auf Niedecken's Geburtstagsfeier zum 60sten auf einem Rheinschiff, gleichzeitig erscheint auch Niedeckens Autobiografie "Für ne Moment". Ende Mai wird dann das 35-jährige Bestehen von BAP mit einem 3-tägigen BAP-Fest in Köln gefeiert. Die BAP Homepage wurde zum Erscheinen der Single "Halv su wild" komplett umgestaltet (und dabei unzählige Benutzer vergrault), es gab ab Ende 2010 vorab Videos aus dem Studio. Ab Juni 2011 wurde eine ausgiebige BAP-Tour gemacht, auch eine kleine Niedecken & WDR Bigband Tour im Herbst und dazwischen immer wieder Termine einer Lesetour zur Autobiografie. Kurz gesagt: 2011 war überladen mit BAP- und Niedecken-Events. Das BAP-Jahr endete jedoch vorzeitig am 2.11.2011, als Wolfgang Niedecken einen Schlaganfall erlitt, von dem er sich allerdings innerhalb von nur 6 Monaten komplett erholte. Soviel zur Bandgeschichte rund um dieses Album, das in mehreren Versionen erschien, unter anderem in einer nur bei Amazon erhältlichen Box, die mit viel unnötigem Beiwerk, aber fast keinem musikalischen Mehrwert zu einem horrenden Preis aufwartete.
Musikalisch nimmt die Bandbreite im Vergleich zu Radio Pandora ab, die Songs von "Halv su wild" sind überwiegend "radiotauglich" und die Arrangements wirken glatter als auf dem Vorgänger. Wieder sind als Gastmusiker Anne de Wolff und Rhani Krija im Studio-Line-up dabei, dazu noch ein Bläsersatz, der aber nur bei "Chlodwigplatz" zum Einsatz kommt.

Der Opener "Halv su wild", ein einfach gestrickter Gitarrenrocker, dessen Solo gefühlt fast mit nur einem Ton auskommt, bekam erst mit den Ereignissen von November 2011 bis Mai 2012 im Nachhinein eine textliche Tiefe. Durch den glimpflichen Ausgang des Schlaganfalls wurde aus dem schlichten Mutmach-Song fast eine Art Lebensweisheit. Die Strophen luftig mit E-Piano Licks und zurückhaltender Rhythmusgitarre, zum Refrain dann eine Art Guitar-Wall-of-Sound, der den Hörer mitreißt, weshalb der Song auch im Live-Repertoire der Band seinen festen Platz hat.

Mit "Et Levve ess en Autobahn" blickt Niedecken zurück auf seinem Lebensweg und verklausuliert in der Metapher der Autobahnfahrt die diversen Rückschläge und Fehler, richtet dabei aber den Blick nach vorn in die Zukunft. Eine Nummer, die live gut abgeht, aus Niedeckens Sicht sicher auch eine Art Entschuldigung an Frau und Kinder, die den Mann/Vater oft vermissen mußten. Helmut's Telecaster sorgt mit Licks für Feinarbeit und Konturen, Niedecken's Duesenberg gibt dem Arrangement Fülle und Wärme, das Piano von Michael Nass bleibt überwiegend im Hintergrund und wird dann durch die Hammond abgelöst, die jedoch genauso im Hintergrund bleibt. Zöller und Kopal sorgen für ein solides Rhythmusfundament. Live fester Programmpunkt der Touren bis 2014.

Bei "Keine Droppe mieh" hört man deutlich die Liebe zu den Stones heraus. Krummiga mit dreckigen Stones-Licks, Nass darf die Hammond ordentlich maltretieren, Niedecken's Text eine wirre und knallbunte Collage von "weird Scenes" mit viel Name-Dropping von Belsazar und Napoleon über Pinoccio bis zu Daisy Duck und Goofy - es bleibt offen, ob da ein Drogenrausch besungen wird oder ob eigene Erfahrungen mit Unmengen Rotwein in den 80ern bei diesem Text Pate gestanden haben. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Niedecken selbst weiß, was er mit diesem Song dem Hörer sagen will - aus meiner Sicht ist es vielleicht ja einfach nur der Spaß des Musikers, mal so psychedelisch wie die Rockhelden aus den 60ern sein zu wollen. Live macht der Song großen Spaß, aber er schaffte nicht den Sprung in die aktuellen Tour-Setlisten.

Auch bei "Un donoh ess dä Karneval vorbei" klingen Stones-Reminiszenzen an. "Miss you" scheint ein wenig Pate gestanden zu haben. Textlich bedient sich Niedecken des Bildes der "Nubbel-Verbrennung" aus dem Kölner Karneval, vermutlich um klammheimlich Dampf abzulassen und seinen Unmut über die Art und Weise zu äußern, wie der von ihm sehr geschätzte Bundespräsident Horst Köhler in die Enge getrieben wurde, so daß er sich zum vorzeitigen Rücktritt entschloß. Niedecken erklärte bei Live-Auftritten, daß der Song darüber geschrieben wurde, wie man eine Sau durch's Dorf treibt, um von anderen Schweinereien abzulenken. Ironischerweise wurde bei Veröffentlichung mit von Guttenberg schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben und auch Köhler's Nachfolger Wulff ereilte 2012 ein ähnliches Schicksal. Musikalisch solide, aber doch nicht gut genug, um sich für's Repertoire der 2011er-Tour zu qualifizieren.

"Chlodwigplatz" reiht sich ein in die BAP'schen Quoten-Reggae-Nummern von "Müsli-Män" über "Time is Cash" und "Maat et joot" bis "Aff un zo", entwickelt jedoch nicht das Party-Potential des mittlerweile totgespielten "Aff un zo". Niedecken schildert seine Erinnerungen rund um den Nabel seiner kleinen Welt. Auch dieser Song schaffte den Sprung zum BAP-Klassiker nicht - aus meiner Sicht durchaus zu recht.

Mit "Noh all dänne Johre" kommen wir zur "Seele des Albums", wie Niedecken selbst konstatiert. Eine ruhige, besinnliche Nummer, in der Niedecken Rückschau auf sein Leben hält und feststellt, daß er auch mit 60 noch immer diese Unruhe spürt, die ihn antreibt, immer wieder etwas neues zu erschaffen, wieder auf Tour zu gehen und auf Reisen. Aber er stellt auch erste Anflüge von so etwas wie Altersmilde und mehr Gelassenheit fest: Der einst ruhelose Weltverbesserer kann mittlerweile auch einfach nur beobachten und bewerten, ohne gleich auf die Barrikaden gehen zu müssen. Musikalisch ungemein stimmungsvoll arrangiert: Ein Synthi-Layer von Michael Nass läßt das winterliche Grau vor Augen erscheinen, die Akustische Gitarre bestimmt die erste Strophe, Krumminga kommt bei der Überleitung mit einer cleanen, warmen Stratocaster dazu, und erst zur zweiten Strophe setzen Zöller und Kopal mit Drums und Baß ein. Der Song baut langsam auf bis dann zum Refrain E-Gitarre und Hammond dem Sound warme Fülle und etwas hymnenhaftes geben. Nach dem zweiten Refrain bricht Krumminga's E-Gitarren-Solo wie ein Sonnenstrahl aus dem trüben Nebel des Arrangements und führt zu den zwei Schlußrefrains, deren Schlußakkord sich wieder im Nebel des Synthi-Layers verliert. Ganz ohne Frage mein persönlicher Lieblingssong auf diesem Album, das mir ansonsten ein wenig zu glatt und hochglanzpoliert daherkommt. Live fand sich dieser Song meist im Zugabeblock ziemlich am Ende - auf der Akustik-Tour 2014 hatte er den Platz des Openers.

Nach Rückblicken und kritischen Songs kommt mit "Woröm dunn ich mir dat eijentlich ahn?" wieder die leichtere Muse zum Zug. Mit einem Schuß augenzwinkernder Selbstironie schreibt Niedecken die etwas andere Fußballhymne: Den Klagegesang des Leid-gewohnten Fußball-Fans, der trotz miserabler Leistungen und fahrstuhlmäßigen Ab- und wieder-Aufstiegen nicht anders kann, als seinem Verein die Treue zu halten und jede Woche mitzufiebern. Fazit:"Jung, et jitt drei Saache, die söök sich keiner uss: Vatter un Mutter un – wat willste maache – dä Club, mit dem man leiden muss.". Im Live-Programm blieb der Song nur bis zur Akustik-Tour 2014.

Mit "Verjess Babylon" kehrt Niedecken zu seinen alten Liedermacher-Stücken aus der Zeit zurück, als er Solo als Südstadt-Dylan durch Kölns Kneipen zog. Allerdings fehlt diesem Text die bissige Schärfe, die "Sinnflut", "Ruut-wieß-blau querjestriefte Frau" und andere Frühwerke auszeichnete: Babylon ist einfach nur eine Spaßnummer, die wortreich die einfache Pointe vorbereitet, daß dem Herrgott beim verteilen der Sprachen bei den Kölnern die Ideen ausgegangen sind, so daß er ihnen seine eigene Sprache mitgeben mußte. Die Musik erinnert streckenweise an die Melodie von "Et Levve ess en Autobahn", aber durch die komplett unterschiedliche Instrumentierung fällt das nicht allzu sehr auf. Anne de Wolff's Geige gibt der Sache einen Touch von Country, live entwickelte sich der Song zum Mitsing-Klassiker, der allerdings nach 2 Touren dann auch die verdiente Pause bekam.

"Karl-Heinz" ist für mich mit der schwächste Song des Albums, weil er mir fast erzwungen vorkommt. Zum einen, weil der Text nichts anderes ist, als eine in die Eifel verpflanzte Fassung von Chuck Berry's "Johnny B Goode" - von dem BAP auf der Pandora-Tour 2009 eine eingekölschte Version spielte, die vermutlich nicht die Freigabe zur Veröffentlichung von Chuck Berry bekam - und zum anderen, weil da mit der Brechstange dann eine andere Musik für diesen Text erarbeitet wurde, die mit "My Generation"-Baß-Solo und "Westerland"-Surf-Orgel alles ist, nur eben nicht BAP.

"All die Aureblecke" malt eine Morgenstimmung, die Niedecken sehr genau datieren kann, denn es ist der Morgen des 25. Todestages von Heinrich Böll. Akustische Gitarre und das E-Piano von Michael Nass bilden den Kern des Arrangements, die E-Gitarre kommt zurückhaltend mit Einzeltönen dazu, Jürgen Zöller streichelt die Snare mit Besen, zum letzten Refrain kommt leise eine glockige Hammond dazu. Das Ganze klingt herrlich entspannt, während Niedecken über die Augenblicke philosophiert, die das Leben ausmachen, und deren Erinnerung niemand mehr nehmen kann. Den Song gab's auch in einer Duett-Version mit Niedecken's "kleinem Bruder" Clueso als Single, und bei BAP-Konzerten in Erfurt gibt es immer mal wieder auch diese Fassung zu hören.

Weiter geht's mit einem Walzer - oder ist das 6/8tel Takt? "Immerhin" besingt eine Aufbruchstimmung, die offensichtlich im Urlaub irgendwo in Afrika beschrieben wurde, da Nilpferde und Affen im Text erwähnt werden. Das Glücksgefühl von Sonnenschein nach Dunkelheit und Staub wird beschwingt in Musik umgesetzt. Ein Song, mit dem ich nie so recht warm wurde, weil er einfach zu nichtssagend ist. Dieser Song wurde tatsächlich bisher nie live vor Publikum gespielt.

Eine weitere Stones-Anleihe kommt mit "Enn Dreidüüvelsname", das Niedeckens Nachdichtung/Neufassung von "Sympathy for the Devil" ist - zum einen inspiriert durch die Tatsache, daß Niedecken ohne Abitur die Schulzeit beendete, weil er es wagte, bei der Aufgabenstellung "Interpretiere dein Lieblingsgedicht" den damals brandneuen Stones-Song "Sympathy for the Devil" zu übersetzen und interpretieren (und das auf einem katholischen Internat!), zum anderen sicher auch ein Heidenspaß für den Stones Fan Niedecken, einmal genauso böse sein zu dürfen wie Mick Jagger. Einmal mehr zeichnet Helmut Krumminga für die dreckigen Stones-Licks verantwortlich, Zöller und Kopal präzise und knackig bei der Rhythmusarbeit, Nass eher im Hintergrund mit dem E-Piano. Der Text natürlich gegenüber der Vorlage deutlich aktualisiert mit Verweisen auf 9/11, den DDR-Schießbefehl, Giftmüll-Vergehen und die Massaker im Bosnienkrieg. Auf den Touren 2011/2012 fest im Live-Set.

Wieder wird es philosophisch und besinnlich mit dem getragenen "Niemohls". Die ersten 2 Strophen bestimmt der warme Synthi-Layer von Michael Nass, die E-Gitarre mit einer zarten Melodie in der Überleitung. Nach dem 2. Refrain dann wird der Song rockiger, die E-Gitarre übernimmt mit vollen Akkorden. Der Song geht um Rückschau und die Frage, was man besser anders gemacht hätte - mit der Antwort, daß man nie eine Entscheidung bereuen sollte sondern zu ihnen stehen. Wie "Immerhin" live bisher noch unberücksichtigt.

Das Album endet mit Niedeckens Liebeserklärung an seine Frau "Waat ens jraad", das halb "Tschuldigung" und halb "Danke" sagt und sich wundert, daß die Frau es mit diesem Streuner so lange aushält. Wolfgang alleine mit akustischer Gitarre, erst zur letzten Strophe kommt Anne de Wolff's Geige und ein zart hingetupftes Piano von Michael Nass dazu, die zusammen das Schlußsolo spielen. Sehr gefühlvoll das Ganze, aber nicht überladen, sondern irgendwie angenehm entspannt. Ein perfekter Schluß für ein abwechslungsreiches Album mit Höhen und Tiefen. Der Song wurde 2013 gleich nochmals auf Niedecken's Solo-Album "Zosamme alt" in einer anderen Fassung veröffentlicht und in dieser dann live bei ein paar Radio-Konzerten gespielt - ins BAP-Live-Repertoire kam er bisher noch nicht.

An den Angaben zu den Kompositionen kann man ablesen, daß zu diesem Zeitpunkt Krumminga's Stern in der Band schon beginnt zu sinken. Nur 6 der 14 Musiken stammen aus seiner Feder, eine davon zusammen mit Michael Nass, der weitere 3 Musiken alleine schrieb. 5 Songs schrieb Niedecken im Alleingang, darunter die starken "Autobahn" und "Noh all dänne Johre". Das alles mag zu einer Unzufriedenheit bei Helmut Krumminga geführt haben, die letztendlich 2014 zu seinem Ausstieg führte. Das "Halv su wild"-Album ist in mancherlei Hinsicht ein Wendepunkt in der Geschichte der Band. Für kein Album wurde soviel Promotion-Aufwand getrieben, es gab aber auch selten so einen Fehlschlag wie die unsägliche Amazon-Box Version, die viel Unmut in Fankreisen erntete. Die Mondpreise dafür fielen stark und es dauerte lange, bis der Restbestand über den Internet-Shop auf der BAP-Webseite endgültig vertickt war. Nach diesem Album kam Niedecken's erstes Solo-Album, in dem er BAP-Material im Americana-Stil mit amerikanischen Studio-Musikern aufnahm - was dann wohl zum endgültigen Bruch zwischen Krumminga und Niedecken führte, später zum Ausstieg von Jürgen Zöller und schließlich zum heutigen Stand, wo BAP aus Niedecken's Sicht aus einem Pool von Musikern besteht, die nicht immer alle im Studio oder bei Live-Touren verfügbar sind.

Punkte: 8.5 / 10


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