Der Ex-Genesis-Frontmann (ja, den Stempel kriegt er mit seinem zweiten Album noch einmal zurecht aufgedrückt, denn die Nähe seines Schaffens zu dem seiner ehemaligen Kollegen ist auf "II" - oder "Scratch" - noch sehr deutlich zu hören) ist noch immer auf der Suche nach der eigenen Identität - und er ist ihr schon einen großen Schritt näher, vergleicht man "Scratch" mit dem erst ein Jahr zuvor erschienenen Debut-Album.
Wäre da nicht die überaus spröde Produktion!
Ich kann dukeboris' Liebe zu diesem Album nachvollziehen. Bei mir hat es aber Jahre gedauert, bis sich ein gewisses Liebhaben eingestellt hat. Was mich bei der Platte schlichtweg nervt, ist Gabriels Gesang. Ich schätze seine Stimme sehr. Nicht aber auf diesem Album! Da hätte man sich schon mehr Mühe geben können, auch wenn damals alles sehr schnell gehen musste, beziehungsweise sollte.
Abgesehen vom Gesang (bei fast allen Stücken) sind die (meisten) Songs auf dem Album kleine Meisterwerke; was vor allem seit dem Remastering Anfang dieses Jahrtausends deutlich hörbar ist. Alle Stücke haben eine unglaubliche Tiefe. Bereits auf diesem Album deutet sich an, was auf "Peter Gabriel 3" und "4" zum Manifest wird: bei jedem Hör-Durchlauf lässt sich Neues entdecken.
Den Auftakt macht "On The Air", ein schneller Rock-Song, viel Gitarre, relativ simples Arrangement. Vergleiche mit "Modern Love" vom Debut und "And Through The Wire" vom nachfolgenden Album sind legitim. Ein Füller gleich zu Beginn? Oder versucht sich der Künstler der Punk-Bewegung dieser Jahre anzubiedern? (Das kam zu dieser Zeit ja häufiger vor.) Das Stück lässt mich als Hörer ein wenig ratlos zurück.
Dann kommt "D.I,Y." Das "Solsbury Hill" des zweiten Albums - im 5/4-Takt. Knackig. Typisch Gabriel: an der Oberfläche ein simpler Pop-Song, bei genauerem Hinhören aber eine nicht einmal drei Minuten dauernde, vertrackte Perle. Der Gesang nervt hier dankenswerter Weise kaum. Trotzdem: vergleicht man "On The Air" und "D.I.Y." mit den Versionen auf "Plays Live" von 1983, lässt sich zumindest erahnen, was bei einer saubereren Produktion hätte herauskommen können. Man hätte Gabriel einfach den ganzen Scheiß solange einsingen lassen sollen, bis es gepasst hätte!!! (DAS hat sich aber erst Daniel Lanois acht Jahre später auf "So" getraut.)
"Mother Of Violence". Da gebe ich dukeboris noch einmal Recht: das Stück hat enorme Lieblingssong-Qualitäten. Eine kleine, melancholische Piano/Gitarren-Ballade mit tiefsinnigem Text: "Angst ist die Mutter der Gewalt" - das Lied ist heute aktueller denn je. Und in diesem Fall ist Gabriels verhärmter, wehmütiger Gesang soger sehr passend. Der Song bekommt die volle Punktzahl!
"A Wonderful Day In A One-Way World" ist schräg. Auch was das Arrangement anbelangt. Geprägt ist die Nummer von Levins hüpfenden Bass und McGinnis' Slide-Gitarre. Skurriler Text über den wochenendlichen Wahnsinn in einem Einkaufszentrum.
Die LP-Seite A schließt das wunderschöne "White Shadow" - mittlerweile MEIN Favorit auf diesem Album. Das Stück ähnelt dem, was die ehemaligen Kollegen (vgl. Genesis "And Then There Were Three", Tony Banks "A Curious Feeling" und die ersten drei Hackett-Alben) so machen, meiner Meinung nach am meisten. "White Shadow" wirkt ein wenig "retro", bleibt aber ein typischer Gabriel-Song, was in erster Linie wohl am repetitiven Rhythmus festzumachen ist. Das Slide-Gitarren-Outro ist zum niederknien! (Und auch, wenn's nach Robert Fripp klingt, ist es doch Sid McGinnis.)
Die B-Seite:
"Indigo". Das hat Gabriel schon 1977 live gespielt. Damals noch mit improvisiertem Text. Sowas kennt der Fan auch von der "Back To Front Tour" 2014/15. Und wer sich "Deja Vu" von Hacketts "Genesis Revisited" genau anhört, der merkt, dass sich Gabriel mit den Harmonien von "Indigo" scheinbar schon einige Jahre herumgeschlagen hat. Eine melancholische Piano-Ballade mit tieftraurigem Text, der sich mit Alter und Tod auseinandersetzt. Sehr, sehr schön, und gesanglich gelungen.
"Animal Magic". Ein Rocker. Der Gesang ist zum Kotzen!!! Auf diversen Bootlegs ist zu hören, was der Song hätte hergeben können - weil schlecht ist er nicht, er klingt nur beschissen! SKIP. (Schade.)
"Exposure" - für mich lange Zeit das zentrale Stück des Albums. Experimentell. Eine Kooperation mit Robert Fripp. Der zweite 10-Punkte-Song auf dem Album. Alles ist perfekt: Marottas hypnotisches Drumming, Levins pumpender Bass, der Frippertronic- und Blockflöten-Teppich, und Gabriel singt zu wenig, als dass es nerven könnte. (Auf Fripps "Exposure"-Album beweist Terre Roche übrigens äußerst eindrucksvoll, wie sehr man dieses Stück auch zerkreischen kann.) Exposure hätte auch auf Gabriels drittes und bis dato experimentellstes Album gepasst.
"Flotsam & Jetsam", wieder ein akustisches Kleinod. Enigmatischer Text, der musikalisch perfekt untermalt wird. Wieder mit Blockflöte und Slide-Gitarre. Eine weiteres unterschätztes Meisterwerk auf diesem Album.
"Perspective" ist es nicht! Nach "On The Air" und "Animal Magic" Rocker Nummer 3. Tim Capellos Saxophon kann hier nichts retten. Der Song an sich ist als Füller gar nicht so schlecht. Aber hier ist Gabriels Gesang wieder die große Schwachstelle. SKIP.
Geil ist indes Capellos Sax in "Home Sweet Home", das den Abschluss des Albums bildet. Vor allem an der Stelle, an der der Gesang ins Saxophon-Spiel übergeht. Ein absoluter Gänsehaut-Moment! Das Lied ist schön. Eine Ballade mit tod-traurigem Text. Junge lernt Mädchen kennen, schwängert Mädchen, landet schmerzvoll in der englischen Arbeiterklassenrealität, Mädchen springt mit gemeinsamem Kind aus dem Fenster, die Versicherung zahlt, Protagonist wird im Spielcasino reich... happy end? Mit Abstand Gabriels nachdenklichster, traurigster Song.
Mittlerweile mag ich "Scratch" - leicht gemacht hat es es mir aber nicht. Auch der Meister selbst - so scheint's - hat sich Jahre lang davon distanziert. Bis "On The Air", "D.I.Y." und "Mother Of Violence" 2007 auf Drängen der Fans wieder ins Live-Repertoire gewandert sind. Aber immerhin geht ein großer Zauber von diesem Album aus. Ich empfehle: Kopfhörer auf und in die Musik abtauchen! Das ist bei dem Album durchaus möglich. Ich weiß nicht, wie die neue half-speed-gemasterte Vinyl-Ausgabe klingt, aber die remasterte CD von 2002 gibt unheimlich viel von der Qualität dieses Albums preis.
Ach, hätte sich der Sänger doch schöner gesungen..... aber was soll's!
Ich danke für die geschätzte Aufmerksamkeit!
(Ja, das war viel Text, aber dieses Album ist es Wert!!!)
Punkte: 6.5 / 10