Nun, und dies hat was genau mit RAZOR zu tun? Auch eben jene Kanadier zeigten nach ihren stilistisch sturen und stets qualitativ überaus starken Vorgängeralben schließlich auf "Custom Killing" so etwas wie eine Weiterentwicklung. Allerdings eine sehr ungewöhnliche: Man schrieb auf einmal Überlängesongs, denen auch noch recht aufwändige Strukturen verpasst wurden. So weit, so gut, das tun viele, jedoch (und das ist der springende Punkt) RAZOR änderten absolut nichts an ihrem Sound und ihrer Spielweise: Alles rumpelt, hämmert und zerstört wie einst im Mai. Statt der geänderten Kompositionsweise auch eine glattere Produktion und gezügelte Spielfreude folgen zu lassen, behalten RAZOR ihr gewaltbereites, ungeschliffenes Geboller einfach bei. Es gibt Bands, deren Musik wird komplexer, gleichermaßen jedoch gebügelter und es gibt Erzkonservative, deren Stil über Jahrzehnte nicht verändert wird (etwa die Landsleute von EXCITER, welch wundervolle Band, oder ANVIL). RAZOR jedoch machen hier schlichtweg beides.
Man höre etwa das einleitende „Survival of the Fittest“. Ein ungemein spannender Songaufbau, zunächst ungewohnt schleppend und von bedrohlicher Atmosphäre, später allein durch einen Taktwechsel bei den Drums ins Midtempo übergehender und sich schließlich in bekannte RAZOR-typische entfesselte Geschwindigkeitsorgien entwickelndes Stück . Der ausgedehnte Instrumentalpart umfasst alleine die ersten fast fünf Minuten, ist jedoch dergestalt abwechslungsreich durchkomponiert, dass fast der Eindruck entsteht, man habe einen Song regulärer Länge vorliegen. Selbiges gilt auch für die restlichen der über zehn Minuten Spielzeit. Textlich prangert Dave Carlo hier zunächst eine Reihe nicht weiter konkretisierter sozialer Missstände an, Dinge wie den der hilflosen Gesellschaft über den Kopf wachsenden technischen Fortschritt, Machtmissbrauch und Anpassungsdruck: eine Welt, in der sprichwörtlich nur die fittesten, also angepasstesten „Individuen“ überleben („Stuck walking the straight line, opinions overthrown“). Dann jedoch kommt die inhaltliche Kehrtwende: Das Versprechen, eben jener Gesellschaft die Stirn zu bieten, nein, sie niederzuringen. Aus dem Überleben der Angepasstesten wird ein Überleben der Stärkeren (wie der Darwin zugeschriebene Ausspruch von Herbert Spencer ja ohnehin oftmals fehlverstanden wird).
Durchweg ist das Songwriting hier auf einem hohen Niveau, ebenso befinden sich auch kompaktere Nummern auf dem Album, die in gewohnter RAZOR Manier verzücken. Ich komme allerdings nicht umhin, noch zwei Stücke besonders hervorzuheben.
Abermals stärker ist der zweite Überlängehammer, namentlich „Last Rites“. Der Übergang von den Kirchenorgeln zu dem verstörend aus dem Nichts hereinbrechenden Tapping Solo ist umwerfend, das folgende Midtempo Gestampfe ungemein mitreißend (erinnert an einen gewissen Song namens „Distant Thunder“) und das folgende schnelle Riffing überschlägt sich fast vor spielerischem Enthusiasmus. Das waren dann gerade einmal die ersten drei Minuten. Der Schäferhund singt außergewöhnlich melodisch vom finalen Zweikampf und macht dabei eine unglaublich gute Figur. Ich belasse es nun dabei, dieses Stück beinhaltet mehr Riffs, Melodiebögen, Breaks, Ideen überhaupt als andere Bands auf einem gesamten Album verbrauchen, dabei ist dennoch alles aus einem Guss. Ja, ich wage hier von einem der besten RAZOR Songs überhaupt zu sprechen. Das hier hat mindestens „Take This Torch“ Niveau, wenngleich natürlich kaum vergleichbar.
Das direkt darauf folgende „Snake Eyes“ entschuldigt (und man entschuldige mir diesen unangemessenen Begriff) für den so aufwändigen Vorgängersong. Mit irrwitziger Geschwindigkeit und schneidend-eindringlicher Melodei drischt diese Nummer auf den Hörer ein. Ich fühle mich an „Iron Hammer“ erinnert, was sicher am ähnlichen Riff liegen mag, dennoch ist hier nicht von einer Selbstkopie zu sprechen, denn die Grundmelodie ist eine völlig andere, zudem fühlt sich der Song rockiger und leichtfüßiger an als der grundböse Thrasher vom „Evil Invaders“ Album.
Bedauerlicherweise trifft all dies starke Material (die übrigen Stücke zeigen keine nennenswerten Ausfälle) auf eine relativ dünne Produktion. Der Sound hätte durch mehr Druck an Durchschlagskraft gewonnen.
Es bleibt dennoch zu konstatieren: ein kompositorisch eigensinniges und überaus gelungenes Werk, welches gar einige der Sternstunden unter den RAZOR Songs zu bieten hat und dem auch die RAZOR-eigene Spielfreude und fröhliche Brutalität in keiner Weise fehlt. Dieses wundersame Teil bietet alles, was man bis dato von dieser Ausnahmeband erwartet und eben noch etwas mehr.
Punkte: 9 / 10