Sowohl in kreativer als auch politischer Hinsicht war das geteilte Berlin für Bowie „der Mittelpunkt des Geschehens in Europa, jetzt und in den kommenden Jahren.“ Er wollte „experimentieren, neue Kompositionstechniken entwickeln und tatsächlich eine neue musikalische Formsprache erschaffen.“
So aufsehenerregend „Low“ auch war, es kam nicht aus heiterem Himmel. Bereits auf „Station To Station“ hatte Bowie bei seinen Songs mit bausteinförmigen Mehrspur-Aufnahmeverfahren herumexperimentiert. Und in der Zwischenzeit hatte „The Idiot“, Bowies erste Zusammenarbeit mit Iggy Pop, neue Wege aufgezeigt.
Aber erst mit Brian Enos Hilfe konnte er die Bausteine so radikal neu anordnen. Der ebenfalls aus England stammende Avantgarde-Rockmusiker Eno hatte sich den Zwängen des Ruhms entzogen, indem er seine Glamrock-Persona, die er als Keyboard-Konzeptkünstler bei Roxy Music lebte, abschüttelte. 1975 brachte er das Soloalbum „Another Green World“ heraus, ein Meisterwerk der freien Form, das Instrumentalstücke und textbasierte Songs mit unkonventionellen Sounds verbindet. Bowie hat dieses Album sehr verehrt.
Er begann die Arbeit von „Low“ im Anschluß an die Aufnahmen von „The Idiot“ im Chateau d`Herouville in Frankreich, einem Studio, in dem er 1973 bereits „Pin Ups“ eingespielt hatte. Ebenfalls daran beteiligt war Tony Visconti, der Produzent, mit dem Bowie seit 1969 sporadisch zusammen arbeitete. Auf Anfrage von Eno und Bowie, ob er bereit wäre, einen Monat seiner Zeit für Experimente zu verschwenden, die eventuell ins nichts führen, antwortete Visconti: „Einen Monat meines Lebens mit David Bowie und Brian Eno zu verschwenden, die eventuell zu nichts führen, ist auf keinesfalls Zeitverschwendung. Visconti hatte ein brandneues Gerät im Gebäck: den Eventide Harmonizer, eine Art Ur-Sampler, der gleichzeitig Sounds aufnahm, sie veränderte und abspielte. Der Eventide Harmonizer wurde das Schlüsselelement im Mix von „Low“.
Brian Enos Handschrift ist auf der B-Seite von „Low“ am deutlichsten zu erkennen. Ein Großteil der Instrumentalstücke wurde aufgenommen, als Bowie zur Regelung diverser juristischer Angelegenheiten in Paris weilte. Der eindrucksvolle Song „Warszawa“ stammt aus der Feder von Eno, vom atemberaubenden Gesang Bowies einmal abgesehen. Bowie und Visconti haben Bowies Stimme höher gepitcht. Der Gesang eines bulgarischen Knabenchors auf einer LP, auf die Bowie in Paris gestoßen war, inspirierte sie dazu.
Heraus kam ein seltsames und schönes Album, das RCA in Angst und Schrecken versetzten. Für die Plattenfirma war „Low“ kommerzieller Selbstmord. Tatsächlich kam es Bowies Vorstellung einer „neuen musikalischen Formensprache“ ziemlich nahe, ein Album, das den Rock-Sound revolutionierte und auf nachfolgende Musikergenerationen wirkte. „Dieses eine Album, dieser eine Song „Warszawa“, machte mir bewußt, dass Musik die ultimative Kraft ist, jedenfalls in meinem Leben“, sagte Dave Sitek von TV On The Radio, die später ebenfalls mit Bowie zusammenarbeiteten.
Punkte: 7 / 10